Artikel 225 bis des spanischen Strafgesetzbuchs stellt die Kindesentführung unter Strafe und definiert die Umstände, unter denen das Verbringen eines Kindes aus seinem Wohnumfeld als rechtswidrig gilt.
Nach dem analysierten Urteil ist die Frage der territorialen Zuständigkeit von grundlegender Bedeutung, da sie die gerichtliche Zuständigkeit bestimmt, in der eine derartige Tat verhandelt werden muss. In diesem Sinne legt die Zweite Kammer des Obersten Gerichtshofs Folgendes aus: „Die örtliche Zuständigkeit wird durch den Ort bestimmt, an dem die Straftat begangen wurde, d. h. durch den Ort, von dem aus der Vater die Minderjährige angeblich entführt hat oder an den er sie hätte zurückbringen müssen, was nichts anderes ist als der Wohnsitz oder der Aufenthalt der Minderjährigen“.
Damit legt der Gerichtshof ein klares Kriterium fest: Die Zuständigkeit bestimmt sich nach dem Ort des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes vor Begehung der Entführungshandlung, wodurch ein kohärenter und für die betroffene Partei zugänglicher Rechtsrahmen gewährleistet wird.
Das Urteil stützt sich auf die Verordnung 2201/2003, bekannt als „Brüssel IIa“, die die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union regelt. Die Zweite Kammer hebt insbesondere hervor, dass diese Verordnung die Zuständigkeit auf der Grundlage des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten begründet: „Sie begründet die Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, bis das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erworben hat“.
Dieser Grundsatz besagt, dass die Zuständigkeit auch dann, wenn das Kind in einen anderen Mitgliedstaat verbracht wurde, bei dem Staat verbleibt, in dem das Kind zuvor seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, es sei denn, das Kind hat in dem neuen Staat eine langfristige Aufenthaltsbeziehung begründet.
Die Zweite Kammer unterstreicht ferner die Bedeutung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes als ein Element zur Bestimmung der Zuständigkeit. Zur Definition dieses Begriffs wird in dem Urteil festgestellt, dass der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes dem Ort entspricht, an dem sich die Familie dauerhaft aufhält oder an dem sie gemeinsam beschlossen hat, sich niederzulassen, wobei unter anderem folgende Faktoren berücksichtigt werden:
Mit diesem Kriterium soll das Kind geschützt werden, indem sichergestellt wird, dass gerichtliche Entscheidungen in Entführungsfällen in der Umgebung getroffen werden, die dem Lebensmittelpunkt des Kindes am nächsten ist.
In diesem Fall ergaben sich komplexe Umstände aufgrund der durch die COVID-19-Pandemie auferlegten Mobilitätsbeschränkungen. Diese Maßnahmen schränkten die Bewegungsfreiheit sowohl auf lokaler als auch auf internationaler Ebene ein, was sich auf die Bewegungen des Täters und des betroffenen Kindes auswirkte. Bei einer Kindesentführung stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wann und wo die Straftat als vollendet angesehen werden kann, da die Einschränkungen die Mobilität der Person, die das Kind entführen wollte, behinderten oder direkt verhinderten.
Das Gericht vertrat die Auffassung, dass der Täter aufgrund der Mobilitätsbeschränkungen darauf beschränkt war, das Kind an einem bestimmten Ort zu halten, und dass diese anhaltende Situation keine kontinuierliche Vollendung der Straftat in verschiedenen Gebieten, sondern eine anfängliche Vollendung an einem bestimmten Ort impliziert, auch wenn die nachfolgenden Beschränkungen das Kind am Ort der Entführung hielten.
Der Oberste Gerichtshof kommt in seinem Urteil zu dem Schluss, dass im Falle einer internationalen Entführung die Gerichte für die Ermittlung und Verfolgung der Straftat zuständig sind, die sich am Wohnort des Kindes befinden. Dieser Ansatz unterstützt den Grundsatz des „favor minoris“, d. h. des Kindeswohls, indem er sicherstellt, dass das Gerichtsverfahren in einem für das betroffene Kind vertrauten und nahen Umfeld durchgeführt wird.
Diese Auslegung hat erhebliche praktische Auswirkungen auf grenzüberschreitende Fälle, da sie ein klares und stabiles Kriterium festlegt, das eine doppelte Zuständigkeit vermeidet und die Kohärenz mit den Grundsätzen des europäischen Rechts gewährleistet.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Urteil der Zweiten Kammer des Obersten Gerichtshofs eine klare und praktische Auslegung der territorialen Zuständigkeit in internationalen Kindesentführungsfällen liefert. Die Entscheidung legt fest, dass sich die Zuständigkeit in diesen Fällen nach dem gewöhnlichen Aufenthaltsort des Kindes richten sollte, um die Stabilität und das Wohl des Kindes in einer solch heiklen Situation zu schützen.
Diese Entscheidung spiegelt die Sensibilität des Obersten Gerichtshofs in Fragen der Kindesentführung wider, da sie der Nähe des Kindes zu seiner Umgebung den Vorrang einräumt und seinen Schutz garantiert, während sie gleichzeitig das spanische Recht an die europäischen Vorschriften der Verordnung Brüssel II bis anpasst. Mit diesem Ansatz bietet der Gerichtshof eine Orientierungshilfe, die das nationale Recht mit der Verpflichtung zum Schutz von Kindern auf internationaler Ebene in Einklang bringt.