Rechtsgrundlage:
Artikel 790 Absätze 2 und 3 der spanischen Strafprozessordnung (Ley de Enjuiciamiento Criminal, LECrim) bestimmt, dass das Berufungsgericht prüfen kann, ob das erstinstanzliche Gericht gegen Verfahrensvorschriften oder Verfahrensgarantien verstoßen hat und/oder ob die tatsächliche Begründung unzureichend oder irrational war, offensichtlich von Erfahrungssätzen abgewichen ist oder eine relevante Beweiswürdigung unterlassen wurde. Es darf jedoch keine eigenständige Beweiswürdigung vornehmen, es sei denn, die Beweise wurden in zweiter Instanz erneut erhoben. Dies ist nur der Fall, wenn sie in erster Instanz nicht erhoben werden konnten, unrechtmäßig abgelehnt oder zugelassen wurden oder aus Gründen, die nicht dem Rechtsmittelführer anzulasten sind, nicht erhoben wurden. Dieses Prinzip wurde durch die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs Spaniens (Tribunal Supremo) weiterentwickelt, die den Umfang der Berufungsprüfung abgegrenzt hat.
Leitprinzipien der Urteilsüberprüfung:
Bei der Überprüfung eines Urteils sind verschiedene Grundsätze zu berücksichtigen:
- Der Grundsatz der Unmittelbarkeit sichert die Richtigkeit der Beweiswürdigung des erstinstanzlichen Richters, da sie auf der direkten Wahrnehmung der Beweismittel beruht. Dies verhindert, dass das Berufungsgericht diese Würdigung ersetzt, es sei denn, die Beweise wurden in zweiter Instanz unter vollen verfahrensrechtlichen Garantien erneut erhoben.
- Der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens bestimmt, dass nur Beweise, die im Rahmen der mündlichen Verhandlung unter Beteiligung aller Verfahrensbeteiligten erörtert wurden, eine Verurteilung begründen können, wodurch die Überprüfung im Berufungsverfahren eingeschränkt wird.
- Der Grundsatz der Mündlichkeit verstärkt die Bedeutung der unmittelbaren Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung und verhindert, dass die Berufungsgerichte festgestellte Tatsachen ohne erneute Beweisaufnahme abändern.
Rechtsprechung:
Die gefestigte Rechtsprechung betont die Begrenzung der Überprüfungskompetenz des Berufungsgerichts:
- STC 32/1995 und STC 123/1997 (Verfassungsgerichtshof, Tribunal Constitucional): Das Recht auf die Unschuldsvermutung verlangt, dass Verurteilungen auf ausreichenden und gültigen Beweisen beruhen. Zudem schränken diese Urteile die Befugnisse des Berufungsgerichts zur Neubewertung von Beweisen ein, wenn die Erstinstanz eine unmittelbare Beweisaufnahme durchgeführt hat.
- STS 459/2018 (Oberster Gerichtshof): Das Berufungsgericht darf die Beweise nicht neu bewerten, als handele es sich um ein neues Verfahren. Es hat lediglich zu prüfen, ob die erstinstanzliche Beweiswürdigung logisch und angemessen begründet wurde. Eine fehlerhafte Beweiswürdigung kann eine Verletzung des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz darstellen.
- STS 667/2008: Die Provinzaudienzen dürfen festgestellte Tatsachen nicht allein auf der Grundlage von Urkunden- oder Zeugenbeweisen ändern, die in zweiter Instanz nicht erneut erhoben wurden. Die Notwendigkeit der erneuten Beweiserhebung unter verfahrensrechtlichen Garantien wird betont.
- STS 775/2024: Zeugenaussagen müssen unter Wahrung der Unmittelbarkeit und des kontradiktorischen Verfahrens in der Hauptverhandlung gemacht werden, um volle Beweiskraft zu entfalten. Die Beweiswürdigung muss vor dem Gericht erfolgen, das das Urteil fällt, um die Grundsätze der Unmittelbarkeit und des kontradiktorischen Verfahrens zu wahren.
Grenzen der Eingriffsmöglichkeiten der Provinzaudienzen:
Hinsichtlich der Befugnis der Provinzaudienzen zur Abänderung festgestellter Tatsachen sind folgende Grenzen zu beachten:
- Kritische Überprüfung, keine direkte Neubewertung: Das Berufungsgericht ist nicht dazu befugt, die Beweise wie in einem neuen Prozess neu zu würdigen. Seine Aufgabe ist es, kritisch zu prüfen, ob die erstinstanzliche Beweiswürdigung den Regeln der Logik, den Erfahrungssätzen und dem anwendbaren Recht entspricht (STC 189/1998).
- Begründung einer geänderten Tatsachenfeststellung: Jede Änderung der festgestellten Tatsachen muss hinreichend begründet sein und die objektiven Gründe für die Änderung klar darlegen (STC 17/2000).
- Verbot der "reformatio in peius": Das Berufungsgericht darf die Rechtsstellung des Rechtsmittelführers nicht verschlechtern. Dies ist in Artikel 795 Abs. 2 LECrim sowie in der gefestigten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs festgelegt (z. B. STS 459/2018).
Schlussfolgerung:
Die Provinzaudienzen spielen eine wesentliche Rolle bei der Gewährleistung des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, jedoch sind ihre Befugnisse zur Abänderung erstinstanzlicher Urteile erheblich eingeschränkt. Sie dürfen nur eingreifen, wenn offensichtliche Fehler in der Beweiswürdigung vorliegen, soweit diese nicht von der Unmittelbarkeit abhängen. Die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs und des Verfassungsgerichtshofs stärkt diese Grundsätze, um Rechtssicherheit zu gewährleisten und Fehler zu korrigieren, ohne die Grundrechte der Angeklagten zu gefährden.
Letztlich besteht die Funktion des Berufungsgerichts nicht darin, den Fall neu zu verhandeln, sondern sicherzustellen, dass die Beweiswürdigung in erster Instanz in Übereinstimmung mit verfassungs- und verfahrensrechtlichen Grundsätzen erfolgt ist. Dies stärkt die Rechtssicherheit und verhindert willkürliche Überprüfungen, die den effektiven gerichtlichen Rechtsschutz beeinträchtigen könnten.